Edith Stein. Als Erwachsene/r zum Glauben finden – Erwachsen glauben

Vortrag von Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann am 6. März 2022 in Schifferstadt / St. Laurentius

 

Hinführung

Heute Nachmittag fand – wie jedes Jahr am 1. Fastensonntag – in der Krypta des Speyerer Domes die so genannte Zulassungsfeier statt: ein Gottesdienst, bei dem der Bischof die erwachsenen Taufbewerber des Jahres offiziell zulässt zu den Sakramenten der Taufe, der Firmung und der Eucharistie, die sie in der Osternacht empfangen werden – entweder im Dom oder in ihren Heimatpfarreien. Fünf Frauen und Männer aus dem ganzen Bistum haben sich in diesem Jahr im Erwachsenenalter dazu entschieden, ganz zu Christus und seiner Kirche gehören zu wollen. Für mich gehört diese schlichte Feier zu den berührendsten Gottesdiensten des ganzen Jahres, auch und vor allem wegen der persönlichen Zeugnisse der Bewerberinnen und Bewerber. Es ist jedes Mal aufs Neue beeindruckend zu hören, was sie zu diesem Entschluss gebracht hat: Wie sie Gott in ihrem Leben entdeckt haben, welche Personen und Ereignisse dabei eine Rolle gespielt haben, und wie in ihnen immer tiefer der Wunsch herangereift ist, durch die Taufe hineingenommen zu werden in die Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott und mit allen, die an ihn glauben.

Nach wie vor ist die Erwachsenentaufe, d.h. die Taufe von religionsmündigen Frauen und Männern über 14 Jahren, in Deutschland die große Ausnahme. Von den etwa 105.000 Menschen, die 2020 katholisch getauft worden sind, waren gerade einmal ca. 1.550 Erwachsene. Nach wie vor werden hierzulande Taufentscheidungen fast ausschließlich von Eltern für ihre Kinder getroffen. Früher, als der Großteil der Menschen in unserem Land getauft war, von denen die meisten ihren Glauben – wenn auch unterschiedlich intensiv – praktizierten, und der christliche Glaube den Alltag und das Zusammenleben der Menschen wie auch das Wertefundament der ganzen Gesellschaft prägte, konnte man fest davon ausgehen, dass Kinder nach ihrer Taufe wie selbstverständlich in den Glauben hineinwachsen und so in ihrem Leben jene Entscheidung persönlich einholen, die ihre Eltern bei ihrer Geburt für sie getroffen haben. Das ist heute immer weniger der Fall. Schon vor über 60 Jahren hat Karl Rahner in prophetischer Weitsicht festgestellt, dass das Christentum sich von einem „Nachwuchschristentum“ in ein „Wahl-Christentum“ verändern wird.

Umso wichtiger ist es, dass Kirche sich dieser veränderten Wirklichkeit stellt, was sie nach meiner festen Überzeugung bislang noch viel zu wenig tut. Dass wir vom hohen Ross der trügerischen volkskirchlichen Selbstgewissheit absteigen und unseren neuen demütigen Ort inmitten einer zunehmend pluralen und säkularen Welt anerkennen. Dass wir uns von den gewohnten, aber nicht mehr tragfähigen Wegen der Glaubensweitergabe verabschieden. Und dass wir dafür quer durch alle Milieus neue Zugänge zum Glauben eröffnen und suchenden Erwachsenen Räume des Angerührt-Werdens vom Geheimnis Gottes anbieten, damit sie sich auch unter den veränderten Bedingungen der Diaspora, in einem zunehmend kirchenfernen Umfeld, für den Glauben entscheiden, ihn leben und kraftvoll bezeugen können.

Auf diesem alles andere als leichten Weg kann uns jene Heilige helfen, mit der sich diese Vortragsreihe zur Fastenzeit 2022 befasst: die hl. Edith Stein. In ihrer Biographie, auf ihrem Glaubensweg nimmt sie vieles von dem vorweg, was heute zu Überlebensfragen der Kirche in der postmodernen Gesellschaft Europas geworden ist. Wie können wir Menschen, denen der Kinderglaube zwischen den Fingern zerronnen ist, eine neue Sehnsucht nach dem göttlichen Geheimnis ins Herz pflanzen und sie zu einem mündigen und entschiedenen Christsein führen? Wie können wir Kirche zu einem menschennahen und gottberührenden Ort umgestalten, an dem Menschen neues Vertrauen in den Grund ihres Lebens fassen können, wenn sie sich zunehmend verunsichert und heimatlos fühlen inmitten einer Gesellschaft, die durch vielfältige Spaltungen gezeichnet, in ihren Gewissheiten zutiefst erschüttert und von fundamentalen Krisen bedroht ist? Welche Wege der Glaubenshinführung und –vertiefung braucht es, damit Menschen auch und gerade angesichts der vielen gegenwärtigen Anfragen an Glaube und Kirche sprach- und zeugnisfähig werden?

Edith Stein – als Erwachsene zum Glauben finden

Werfen wir dazu zunächst einen Blick auf den Lebensweg der hl. Edith Stein – darauf, wie sie als Erwachsene zum Glauben gefunden hat. Tun wir das zugleich in dem Bewusstsein, dass wir ein solch zutiefst intimes Geschehen zwischen Gott und Mensch nie in seiner ganzen Tiefe ausleuchten können. Edith Stein selbst antwortete auf die Frage einer ihrer besten Freundinnen und zugleich ihrer Taufpatin nach ihrem Glaubensweg: „secretum meum mihi“ – „Mein Geheimnis gehört mir!“

Edith Stein wurde bekanntlich in Breslau in eine jüdische Familie hineingeboren. Nach dem frühen Tod des Vaters lag die Erziehung in den Händen der tief religiösen Mutter, die ihre Kinder im Glauben an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs erzog und mit den Ritualen des jüdischen Volkes vertraut machte. Dennoch hat sich Edith mit 15 Jahren, an der Schwelle zum Erwachsenenalter, „das Beten ganz bewusst und aus freiem Entschluss abgewöhnt”, wie sie selbst sagt. Sie hat ihren Kinderglauben abgelegt, weil sie ihn bei ihrer Familie und ihren Freunden als kindlich-naiv oder oberflächlich erlebte. Aber auch, weil sie ihn auf dem Weg, ihre eigene Persönlichkeit auszubilden, als Einengung ihrer Freiheit, als Beschränkung ihrer Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben erlebt hat.

Ob sie wegen dieser willentlichen Abkehr von ihrer praktizierten Religiosität zur „Atheistin“ wurde, wie sie in dieser Phase ihres Lebens oft bezeichnet wird, kann man mit guten Gründen bezweifeln. So wie wir grundsätzlich vorsichtig sein sollten, den Glauben oder vermeintlichen Unglauben anderer Menschen vorschnell zu beurteilen. Hinter mancher offensiven Bestreitung Gottes oder manchem Austritt aus der sichtbaren Glaubensgemeinschaft verbirgt sich nicht selten eine tiefe Enttäuschung angesichts konkreter leidvoller Erfahrungen, die jemand in der Kirche gemacht hat, und eine bleibende Suche nach dem tragenden Grund, den man in den brüchig gewordenen religiösen Bahnen nicht mehr entdecken kann. Umgekehrt kann sich hinter manchen religiösen Haltungen – etwa hinter einem all zu starren Festhalten an traditionellen Formen kirchlichen Lebens oder einer rigiden Ablehnung kirchlicher Erneuerung – ein mangelndes Zutrauen in die Wirkmacht des Gottesgeistes hier und heute und damit nichts anderes als ein religiös verbrämter Atheismus verbergen.

Edith Stein ist auch in den Jahren ihrer religiösen Heimatlosigkeit, ihrer „radikalen Ungläubigkeit“, wie sie diese Zeit beschrieb, zutiefst eine Suchende geblieben – auch und vor allem in ihrem intellektuellen Streben nach Erkenntnis und Wahrheit. Dabei hat ihr die Phänomenologie – jene philosophische Denkrichtung, die ihr durch ihren akademischen Lehrer Edmund Husserl nahegebracht worden ist – einen neuen Zugang zur Religion, insbesondere zum Christentum eröffnet. Denn die Phänomenologie ist überzeugt davon, Erkenntnis nur über den Weg der Phänomene, d.h. der mir unmittelbar begegnenden Wirklichkeit, gewinnen zu können. Und so ließ sich Edith Stein aufs Neue vorurteilslos, „ohne Scheuklappen“, wie sie es nannte, auf die religiösen Phänomene in ihrer Umgebung ein und machte auf diesem Weg tiefgreifende Erfahrungen der göttlichen Wahrheit in ihrem Leben. Eine dieser zunächst alltäglichen und doch ihr Leben so nachhaltig verändernden Erfahrungen ereignete sich im Sommer 1916 bei einer Besichtigung des Frankfurter Domes. Edith Stein beschrieb sie später so: „Wir traten für einige Minuten in den Dom, und während wir in ehrfürchtigem Schweigen dort verweilten, kam eine Frau mit ihrem Marktkorb herein und kniete zu kurzem Gebet in einer Bank nieder. Das war für mich etwas ganz Neues. In die Synagogen und in die protestantischen Kirchen, die ich besucht hatte, ging man nur zum Gottesdienst. Hier aber kam jemand mitten aus den Werktagsgeschäften in die menschenleere Kirche wie zu einem vertrauten Gespräch. Das habe ich nie vergessen können.“ Auf dem Weg der phänomenologischen Philosophie hat Edith Stein eine wichtige theologische Wahrheit gelernt: Dass wir Gott in allen Dingen suchen sollen und finden können. Was wir deshalb brauchen, ist eine Spiritualität des Alltags: Räume, in denen wir – alleine und in Gemeinschaft – alltägliche Erfahrungen in uns nachklingen lassen, damit sie durchlässig werden für das Geheimnis Gottes, das uns in jedem Augenblick unseres Lebens, in jeder Begegnung umgibt und anrühren will.

Und doch sollte es nach diesen ersten zaghaften Annäherungen an das Christentum noch mehrere Jahre dauern, bis der Glaubensweg Edith Steins Anfang 1922, also vor genau 100 Jahren, mit dem Empfang der Sakramente der Eingliederung in die Kirche an sein Ziel kam. Ein Weg, der zum einen geprägt war von schmerzhaften inneren Erfahrungen. Edith Stein erlebte die Zeitenwende am Beginn des 20. Jahrhunderts als tiefe Erschütterung. Wie für viele junge Menschen damals bedeutete für sie das Zusammenbrechen der alten Ordnungen in Folge des I. Weltkrieges das Ende ihres jugendlichen Übermuts und grenzenlosen Optimismus. Edith Stein schreibt, dass sie in diesen Jahren von einer „unsagbaren Verwirrung und Dunkelheit“ angesichts der Umbrüche um sie herum befallen war. Zum anderen durfte sie aber zugleich weitere Begegnungen erleben, in denen inmitten ihrer inneren Finsternis etwas vom göttlichen Licht aufleuchtete. Dazu gehört vor allem die Begegnung 1917 mit Anne Reinach, deren Mann als Kriegsfreiwilliger an der belgischen Front gefallen war. Edith Stein reiste sogleich zu der jungen Witwe, um sie in ihrer Trauer zu trösten. Doch es kam umgekehrt: Am Ende aber erfuhr Edith Stein sich selbst durch das tiefe Vertrauen ihrer Freundin in den gekreuzigten und auferstanden Herrn als getröstet. Über diese Begegnung  hat sie nach Aussage ihrer ersten Biographin später gesagt: „Dies war der  Augenblick,  in  dem  mein  Unglaube zusammenbrach  … und  Christus  aufstrahlte:  Christus  im  Geheimnis  des  Kreuzes.“

Auch heute erleben sich viele Menschen als zutiefst verunsichert – in einer Zeit, die von massiven gesellschaftlichen Umbrüchen gekennzeichnet ist. Gerade die Corona-Pandemie hat uns aufs Neue die Verwundbarkeit und Begrenztheit des menschlichen Lebens vor Augen gestellt. Der von Menschen verursachte Klimawandel wächst sich immer mehr zu einer Bedrohung für die ganze Menschheit aus. Der Krieg in der Ukraine zeigt uns, wie bedroht der sicher geglaubte Friede in Europa durch das Machtstreben autokratischer Despoten und den von ihnen erhobenen falschen Besitzansprüchen ist. Diese und andere Entwicklungen erschüttern das Grundvertrauen vieler Menschen und machen sie empfänglich für jene Unheilspropheten, die Zweifel an den staatlichen Institutionen, an den Medien und an den Erkenntnissen der Wissenschaft säen und mit einfachen populistischen Parolen keine Probleme lösen, sondern nur Menschen aufeinanderhetzen und Mauern in der Gesellschaft aufrichten. Welchen wertvollen Dienst kann hier der christliche Glaube leisten, der mit seiner großartigen Vision vom Reich Gottes einlädt zum Vertrauen in Gott, den Grund allen Lebens, und zur Gestaltung einer wahrhaft humanen Welt, in der alle Menschen in Würde und Freiheit in dem einen gemeinsamen Haus Erde leben können. Wie kleinteilig nehmen sich dem gegenüber manche unserer aktuellen binnenkirchlichen Diskussionen aus, die keine wahrhafte Sehnsucht nach dem Göttlichen wecken, sondern auf Suchende inner- und außerhalb der Kirche eher abschreckend wirken.

Zurück zu Edith Stein: Der letzte und entscheidende Schritt ihrer Christwerdung ereignete sich im Juni 1921, als sie zu Besuch in Bad Bergzabern war und dort in diesem Sommer die Autobiographie der hl. Teresa von Ávila las. Im Leben dieser großen Ordensfrau und Mystikerin des 16. Jahrhunderts erkannte sie die „Wahrheit“ und fasste den Entschluss, in die katholische Kirche einzutreten. Am 1. Januar 2022 wurde sie in Bad Bergzabern getauft. Tags darauf empfing sie, ebenfalls in Bad Bergzabern, zum ersten Mal die hl. Eucharistie. Und wenige Wochen später, am Fest der Darstellung des Herrn, wurde sie durch Bischof Ludwig Sebastian in der Kapelle des Speyerer Bischofshauses gefirmt.

Der lange Glaubensweg der hl. Edith Stein zeigt uns: Christsein und Christwerden ist eine zutiefst persönliche Entscheidung und ein dynamischer Prozess zugleich und vollzieht sich in einer mehrfachen Spannung: von Leben und Glauben, die in einen wechselvollen Dialog miteinander gebracht werden; von äußeren Begegnungen und inneren Erfahrungen, die sich gegenseitig befruchten und durchdringen; und letztlich von menschlicher Suche und göttlichem Gefunden-Werden, so wie jeder Glaubensakt sich im Zusammenspiel von Mensch und Gott, von Natur und Gnade vollzieht. Edith Steins verschlungener Weg der Wahrheitssuche dauerte mehrere Jahre – und fand doch in der konkreten Begegnung mit der Autobiographie der hl. Teresa von Ávila, die sie zwar nicht, wie immer wieder fälschlich behauptet, in einer Nacht, aber doch in kurzer Zeit im Sommer 1921 geradezu in sich hineingesogen hat, im Entschluss, sich katholisch taufen zu lassen, sein Ziel. Ihr Glaubensweg war ein langes Ringen um die großen Fragen menschlicher Existenz: nach den Bedingungen menschlicher Freiheit und nach der Möglichkeit der Wahrheitserkenntnis – und führte sie am Ende in einem Augenblick der Gnade zu der Erkenntnis, dass die Wahrheit im tiefsten nicht das Ergebnis intellektueller Anstrengungen, sondern in der Begegnung mit dem menschgewordenen Gott zu finden ist. Und dass die Bindung an die Liebe Christi keine Einschränkung menschlicher Freiheit bedeutet, sondern den Menschen erst wirklich frei macht.

Edith Stein – Erwachsen glauben

Nach dieser kurzen Skizzierung des Wegs Edith Steins als Erwachsene zum Glauben möchte ich in einem zweiten Teil noch einige Merkmale erwachsenen Glaubens aus ihrem Leben und Werk ableiten. Was machte ihren nach dem Ablegen ihres Kinderglaubens wiedergewonnenen Erwachsenenglauben aus? Welche Antworten auf die großen Fragen gab er ihr und konnte sich so auch in den existenziellen Krisen schon vor und ebenso nach ihrer endgültigen Hinwendung zum Christentum als tragfähig erweisen?

  1. Ein Glaube, der die eigene (jüdische) Biographie integriert und im Licht des Glaubens deutet

Ein erstes Kennzeichen erwachsenen Glaubens, das sich an Edith Stein ablesen lässt, ist, dass Glaube sich nicht neben oder gar jenseits der Lebensgeschichte eines Glaubenden vollzieht, sondern diese ganz und gar zu integrieren und im Licht des Glaubens als Gottes Heilsgeschichte mit mir zu deuten vermag. Oft meinen wir ja, Menschen, die als Erwachsene zum Glauben finden, würden eine radikale Kehrtwende vollziehen, würden ein ganz anderer Mensch werden – sich, wie es mit Bezug auf eine der großen Bekehrungsgeschichten der Bibel heißt, vom Saulus zum Paulus wandeln. Doch auch wenn die bewusste Entscheidung zum Glauben dazu führt, die Eingliederung in den Leib der Kirche als persönliche Zeitenwende anzusehen und das Leben in ein Leben davor und danach einzuteilen, so bedeutet das nicht, dass vorher alles dunkel und wertlos war und danach alles glänzend und kostbar. Glauben heißt, die verborgenen Spuren Gottes im ganzen (!) Leben, von Beginn an, zu entdecken.

Für Edith Stein bedeutete das, dass sie auf diesem Weg ihre Beheimatung im jüdischen Glauben in der Rückschau nicht bedauert oder ignoriert, sondern positiv wiederentdeckt und in ihr neues Leben als Christin integriert hat. Ihre Taufe war für sie kein Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben als Jüdin, sondern hatte im Gegenteil eine immer stärkere Besinnung auf ihre religiösen Wurzeln zur Folge. Sie schreibt dazu: „Ich hatte die Praxis meiner jüdischen Religion als Mädchen von vierzehn Jahren aufgegeben und fühlte mich erst nach meiner Rückkehr zu Gott wieder jüdisch.”

Dies zeigte sich zunächst darin, dass Edith Stein die Kontakte zu ihrer Familie, vor allem zu ihrer Mutter, wieder verstärkte und immer wieder, teils Monate lang, nach Breslau zurückkehrte und dort sogar wieder Synagogengottesdienste besuchte und mit ihrer Familie manche jüdische Rituale, etwa das Fasten an hohen Feiertagen, pflegte. Vor allem aber erkannte sie ihre jüdische Biographie zunehmend als Verpflichtung, sich für die Versöhnung von Christen und Juden einzusetzen. Dass ihr Geburtstag, der 12. Oktober 1891, mit dem Jom-Kippur-Tag, dem großen Versöhnungsfest der Juden, zusammenfiel, wurde für sie zu einem Vorzeichen ihrer Bestimmung, Brücken zwischen dem jüdischen und christlichen Glauben zu bauen. Auch die Daten ihrer Eingliederung in die Kirche hat sie bewusst mit Blick auf ihre jüdische Herkunft gewählt. Ihre Taufe am 1. Januar 1922 fand am Oktavtag von Weihnachten statt, an dem die vorkonziliare Liturgie das Fest der Beschneidung Jesu feierte, seine Hineinnahme in den Bund Gottes mit seinem auserwählten Volk. Gleiches gilt für ihren Firmtag am 2. Februar 1922, dem Fest Mariä Reinigung, wie das Fest der Darstellung des Herrn früher genannt wurde – also jenen Tag, an dem Maria und Josef ihren Erstgeborenen zum Tempel brachten, um das vorgeschriebene Dank- und Reinigungsopfer für ihn darzubringen. Ja, auch die Wahl des Ordens, dem sie schon mit dem Lesen der Autobiographie der hl. Teresa von Ávila sehnsuchtsvoll verbunden war, dem sie aus Rücksicht vor ihrer jüdischen Mutter aber erst später beitrat, beinhaltet einen starken Rekurs auf ihre jüdische Herkunft: der Karmel, der nach dem Berg in Israel benannt ist, der mit dem Propheten Elija und der Bezeugung des wahren und lebendigen Gottes verbunden ist. So wie Jesus von Beginn an und sein ganzes Leben hindurch sich als Sohn des Volkes Israel verstand und sich selbst zutiefst in der Linie der Propheten sah, so wusste auch sie sich bleibend mit dem Schicksal ihres Volkes verbunden.

Die Liebe zu ihrem Volk und die Überzeugung, sich in besonderer Weise für ihre jüdischen Glaubensgeschwister einsetzen zu sollen, wuchs in dem Maße, wie die Verfolgungen der Juden, die auch sie selbst trafen, durch die Nationalsozialisten zunahmen. Bereits 1933 verlor sie ihre Lehrerlaubnis, was sie zum Anlass nahm, ihren tiefen Wunsch, Ordensfrau zu werden, endlich umzusetzen und um Aufnahme in den Kölner Karmel „Maria vom Frieden“ zu bitten. Nach der Reichspogromnacht 1938 übersiedelte sie aus Sicherheitsgründen in die Niederlande, in den Karmel der Stadt Echt über. Aber auch das bewahrte sie nicht vor ihrer Deportation und Ermordung im August 1942. Und selbst im Angesicht des nahenden Todes empfand Edith Stein ihre jüdische Herkunft nicht als Last, sondern als Berufung. Eine mögliche Rettung aufgrund ihrer Konversion lehnte sie mit der Begründung ab: „Warum soll ich eine Ausnahme erfahren? Ist dies nicht gerade Gerechtigkeit, dass ich keinen Vorteil aus meiner Taufe ziehen kann? Wenn ich nicht das Los meiner Schwestern und Brüder teilen darf, ist mein Leben wie zerstört.“ Und wie in einem Brennglas bündelt sich in ihren letzten überlieferten Worten ihre bleibende Verbundenheit mit ihren religiösen Wurzeln und ihr Streben nach Versöhnung, als sie bei ihrer Verhaftung zu ihrer Schwester Rosa sagte: „Komm, wir gehen für unser Volk.“

Zusammenfassend können wir also sagen: Erwachsener Glaube zeichnet sich dadurch aus, dass er sich nicht als Beiwerk unabhängig von der eigenen Lebensgeschichte versteht, sondern dass er nach den verborgenen Spuren Gottes im eigenen Leben sucht. Erwachsener Glaube geht davon aus, dass Gott sich nicht erst als Ergebnis menschlicher Glaubensanstrengungen und als Belohnung moralischer Vollkommenheit finden lässt, sondern dass er immer schon da ist – auch und gerade dann, wenn ich mein Leben als vorläufig und gottfern, als dunkel und bruchstückhaft erfahre.

  1. Ein Glaube, der intellektuelle Suche, mystische Erfahrungen und menschliche Zuwendung in sich vereint

Ein zweites Kennzeichen erwachsenen Glaubens ist, dass er intellektuellen Herausforderungen gewachsen ist, dass er vor den großen Sinnfragen nicht in die Knie geht, dass er sich den Anfragen einer nichtglaubenden Umwelt stellen und Rechenschaft darüber ablegen kann, welche Hoffnung den glaubenden Menschen erfüllt.

Gerade hierfür ist Edith Stein mit ihrer großen intellektuellen Kraft, mit ihrer leidenschaftlichen Wahrheitssuche ein Vorbild. Dabei wurde ihr, die die Wahrheit zunächst auf dem Weg des Studiums der Philosophie und Psychologie, der Geschichte und Germanistik gesucht hatte, immer mehr bewusst, dass die Wahrheit selbst nicht das Ergebnis einer intellektuellen Kraftanstrengung und Einsicht ist, sondern eine personale Wahrheit: das Mensch gewordene Du Gottes, das ihr gerade in den krisenhaften Momenten ihres Lebens als Licht der Hoffnung und der Geborgenheit aufstrahlte. Denn in ihrer tastenden Suche nach dem Grund ihres Lebens erkannte sie immer mehr den „starken Arm (Gottes), der einen wunderbar ergriffen und ans sichere Land getragen hat“. Diese Erfahrungen der Gegenwart Gottes waren für sie alles andere als eine Zuflucht angesichts ihres inneren Elends und damit alles andere als eine intellektuelle Kapitulation. Vielmehr erkannte sie gerade darin die Vollendung ihrer Wahrheitssuche: in der Versöhnung von Verstand und Glaube, die sie in der Phase ihrer „radikalen Ungläubigkeit“ nur als einander ausschließend denken konnte. In Jesus Christus, der göttlichen Wahrheit in Person, hat sie die tiefste Antwort auf ihre Fragen gefunden: eine unerschütterliche Zuversicht, „in Gottes Hand geborgen“ zu sein, auch und gerade angesichts ihres „Hingeworfenseins“ zwischen Angst und Geborgenheit, Unbegreiflichkeit und Klarheit, Irrtum und Wahrheit. Ihren Weg der Hinwendung zum Glauben fasste sie in dem Satz zusammen: „Meine Suche nach der Wahrheit war ein einziges Gebet.” Denn für sie ist jede aufrichtige Suche nach der Wahrheit letztlich – ob bewusst oder unbewusst – eine Suche nach Gott bzw. ein Gefunden-Werden von ihm. In diesem Bewusstsein fuhr sie nach ihrer Konversion mit ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit fort, wirkte als akademische Lehrerin, schrieb viele Aufsätze und Bücher und hielt Vorträge zu den unterschiedlichsten theologischen und philosophischen Fragen. Doch anders als zuvor tat sie dies nun aus dem Bewusstsein heraus, dass auch Wissenschaft im letzten nichts anders als Gottesdienst ist und sich nur so angemessen betreiben lässt; und dass deshalb der Kern des Christseins nicht in intellektuellem Verstehen, sondern in herzlicher Liebe besteht.

Beides, ihre intellektuelle Schärfe und ihre mystische Begabung, machten sie fortan zu einer wichtigen geistlichen Ratgeberin für viele. In unzähligen Briefen, oft nur wenige Sätze lang, ließ sie andere Menschen Anteil nehmen an ihren tiefen Erfahrungen und Einsichten und half ihnen behutsam zu erkennen, worin die Wahrheit ihres Lebens liegt. Erst vor wenigen Wochen fiel mir wieder ein Brief von Edith Stein in die Hände, der seit einigen Jahren im Speyerer Bischofshaus als kostbares Vermächtnis an sie aufbewahrt wird. Geschrieben hat sie ihn im August 1932, als sie kurz vor ihrem Ordenseintritt ein letztes Mal für längere Zeit bei ihrer Mutter in Breslau zu Besuch war. Darin gibt sie Fräulein Marianne Karg, die damals auf die Realschule in Bad Dürkheim ging, auf deren Bitte hin Ratschläge für die bevorstehende Berufswahl. Mit schlichten Worten, mit menschlicher Wärme und einem nüchtern-realistischen Blick wägt sie mit der „kleinen Marianne“, wie sie die Empfängerin liebevoll nennt, die unterschiedlichen Möglichkeiten ab, ohne ihr die eigene Meinung aufzuzwingen. Sie zeigt ihr auf, welche Wege ihr damals als Frau noch verschlossen sind – so wie für sie selbst im selben Jahr der vierte Versuch, sich zu habilitieren, an ihrem Frausein scheiterte. Und doch ermutigte sie Marianne Karg weitsichtig, Theologie zu studieren, auch wenn damals Frauen noch keinen Katechismusunterricht erteilen durften – aus der festen Überzeugung heraus, „dass das einmal kommen wird“. Dieser Brief steht, wie viele andere, für die Fähigkeit Edith Steins, Wahrheit und Liebe, Intellekt und Mitgefühl zusammenzudenken und für andere fruchtbar zu machen.

  1. Ein Glaube, der sich in der Kreuzesnachfolge bewährt

Und noch ein drittes macht nach dem Beispiel Edith Steins einen erwachsenen Glauben aus: die Bereitschaft, die erkannte Wahrheit auch im eigenen Leben zu tun. Mit anderen Worten: die Bereitschaft, wie Jesus das Kreuz des Lebens auf sich zu nehmen und ihm auf seinem Kreuzweg zu folgen.

Vor einigen Jahren habe ich den Kreuzweg der Kapelle im Speyerer Bischofshaus, der 1987 anlässlich des Papstbesuchs in Speyer geschaffen und von Johannes Paul II. persönlich gesegnet worden ist, umgestalten lassen. Den 15 Stationen des letzten Weges Jesu, von seiner Verurteilung bis zu seiner Kreuzigung, Grablegung und Auferstehung, stehen nun ausgewählte Sätze und Lebensstationen der hl. Edith Stein gegenüber, die mit dem jeweiligen Passionsgeschehen in enger Beziehung stehen. Denn für mich spiegelt sich in Edith Steins Leben in besonders dichter Weise das Lebensschicksal Jesu, seine Ganzhingabe bis zum Tod am Kreuz, wider. Je mehr Jesu Kreuz auch über ihrem Leben aufgerichtet wurde, umso bereiter wurde sie, es in christlicher Hoffnung mit letzter Liebe und Hingabe zu umfangen und im Geheimnis des Osterglaubens anzunehmen.

Bereits 1917, nach dem Tod ihres Freundes Adolf von Reinach und der beeindruckenden Begegnung mit dessen glaubensstarker Witwe, die für sie zum entscheidenden Anstoß ihrer Hinwendung zum Christentum werden sollte, bekennt sie: „Es war dies meine erste Begegnung mit dem Kreuz und der göttlichen Kraft, die es seinen Trägern mitteilt. Ich sah zum ersten Mal die aus dem Erlöserleiden Christi geborene Kirche in ihrem Sieg über den Stachel des Todes handgreiflich vor mir.“ Zur gleichen Zeit stieß sie auf das Exerzitienbüchlein des hl. Ignatius von Loyola, das sie zunächst nur aus einem Interesse für inwendige psychologische Prozesse heraus zur Hand genommen hatte. Je mehr sie sich jedoch darin vertiefte, umso mehr erkannte sie, dass man dieses Buch „nicht lesen kann, sondern nur tun“. Von da an, so schrieb der Theologe Erich Przywara, dem sie Jahre später bei einem Spaziergang am Speyerer Rheinufer diese Erkenntnis anvertraute, leuchtete auf Edith Steins geistlichem Gesicht „die radikale Entschlossenheit zur Torheit des Kreuzes“ auf, die sich vor allem in den Jahren nach Hitler´s Machtergreifung, in denen der Rassenwahn und Antisemitismus der Nazis immer offener zu Tage traten, bewähren sollte.

Edith Stein´s letztes Buch, das sie 1942, im Jahr ihres Todes in Angriff nahm, trägt den vielsagenden Titel „Kreuzeswissenschaft“. Ihrer Priorin im Kloster Echt, in dem sie damals schon seit über drei Jahren im Exil lebte, schrieb sie dazu: „Eine scientia crucis / Eine Kreuzeswissenschaft kann man nur gewinnen, wenn man das Kreuz gründlich zu spüren bekommt. Davon war ich vom ersten Augenblick an überzeugt und habe von Herzen: Ave, Crux, spes unica! (Sei gegrüßt, Kreuz, unsere einzige Hoffnung) gesagt.” Auf dem Papier blieb ihr letztes Buch unvollendet. Aber sie schrieb es dennoch zu Ende – auf dem Weg hin zu ihrem eigenen Gologota: auf der Todesrampe, in der Gaskammer und im Verbrennungsofen des Konzentrationslagers Auschwitz. In ihrem Tod wurde ihr Ordensname, den sie neun Jahre zuvor ausgewählt hatte, zur persönlichen Gewissheit: Benedicta a cruce – vom Kreuz Gesegnete. Sie konnte ihr Todesschicksal annehmen in dem Bewusstsein, dass dieser Weg sie in besonderer Weise in die Schicksalsgemeinschaft mit dem Gekreuzigten hineinnimmt und ihr zugleich Anteil an seiner Auferstehung schenkt.

Auch hierin erweist sich Edith Stein als Vorbild eines erwachsenen Glaubens. Eines Glaubens, der nicht trostlos verstummt, wenn sich dunkle Schatten auf unseren Lebensweg legen. Sondern der auch und gerade dann zum Durchtragen hilft und Perspektiven eröffnet, wenn unsere Hoffnungen und Pläne durchkreuzt werden. Der auch und gerade dann von der Liebe und dem Leben erzählt, wenn Gewalt und Tod im Leben das Sagen haben. Weil dieser Glaube eben nicht bloß eine schöne Theorie ist, die spätestens an der grausamen Wirklichkeit zerbricht, sondern eine lebendige, wirkliche und wirksame Wahrheit: die Wahrheit des Gekreuzigten, in dessen Tod Gottes unendliche Liebe zu den Menschen ein für alle Mal in dieser Welt aufgeleuchtet ist und seither alles überstrahlt, was in unserem Leben dunkle Angst und finstere Schuld ist.

Abschluss

Wir stehen am Beginn der Fastenzeit – den 40 Tagen, die uns jedes Jahr aufs Neue einladen, unseren Glauben zu vertiefen, damit wir in der Feier der Osternacht unser Taufversprechen aus Überzeugung erneuern können, das bei den meisten von uns die Eltern stellvertretend gegeben haben: „Ich widersage … Ich glaube …“. Hierbei kann uns die hl. Edith Stein als jemand, der diese Entscheidung im Erwachsenenalter getroffen und zu einem reifen, erwachsenen Glauben gefunden hat, ein Vorbild sein. Lassen wir uns von ihr erzählen, was sie zu ihrer rastlosen Wahrheitssuche angestachelt und wie sie dabei von Jesus Christus, der göttlichen Wahrheit in Person, gefunden und in seinen Bann gezogen worden ist. Lassen wir uns von ihrem Beispiel inspirieren, Vernunft und Glaube, intellektuelles Erkennen und mystische Erfahrung, aktives Tun und  kontemplatives Gebet zusammenzuführen. Lassen wir uns wie sie von der Gewissheit leiten, dass Gott seine Heilsgeschichte in der persönlichen Lebensgeschichte einer und eines jeden von uns weiterschreibt und dass wir ihn nicht jenseits unserer Lebens finden können, sondern mitten in unserem Alltag, in jedem Ereignis und jeder Begegnung, auch und gerade dann, wenn wir am wenigsten mit ihm rechnen. Und lassen wir uns von ihr an die Hand nehmen, damit wir selber immer mehr bereit werden, unseren Glauben in Taten der dienenden und sich verschwendenden Liebe konkret werden zu lassen, auch und gerade dann, wenn das Leben die Züge eines Kreuzwegs annimmt.

Dabei kommt es im Letzten nicht darauf an, wie gereift meine Entscheidung für Gott ist, wie tief meine intellektuelle Durchdringung des göttlichen Geheimnisses, wie groß meine Bereitschaft, ihm auf dem Weg des Kreuzes nachzufolgen. Sondern nur darauf, ob ich im Vertrauen auf Gottes Führung stets bereit bin, den nächsten Schritt zu wagen. Auch erwachsener Glaube bleibt ein tastendes Vorangehen, ein vertrauendes Wagnis, ein Gehen an der Hand dessen, der uns nach und nach in die ganze Wahrheit einführen wird. Oder noch einmal mit den Worten Edith Steins: „Es ist im Grunde immer eine kleine einfache Wahrheit, die ich zu sagen habe: Wie man es anfangen kann, an der Hand des Herrn zu leben. Wer sich den Händen des Herrn ganz übergibt, kann vertrauen, dass er sicher geleitet wird.“

 

 

 
 

 


 

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