Christlich leben und glauben im Geiste Edith Steins

Dr. Tonke Dennebaum, Regens, Mainz
Der folgende Beitrag wurde erstmals veröffentlicht in: Ulli Roth (Hg.), Katholisch in 75 Jahren Rheinland-Pfalz. Personen, Orte, Ereignisse, Ideen (Münster 2022) S. 283-287.

Was hat Edith Stein mit dem „Projekt Rheinland-Pfalz“ zu tun? Eine Philosophin und Ordensfrau, Schülerin des Phänomenologen Edmund Husserl und spätere katholische Heilige? Eine Frau, 1891 in Breslau geboren, die 1933 in den Kölner Karmel eingetreten war und von dieser Zeit an ein kontemplatives Leben hinter Klostermauern geführt hatte? Zwar ist sie politisch engagiert gewesen, hat sich für die Rechte der Frau und die demokratische Neuordnung Deutschlands in der Nachkriegszeit eingesetzt, aber das war lange her und bezog sich auf das Ende des Kaiserreichs und die junge Weimarer Republik. Den Neuaufbruch nach 1945 hat Edith Stein nicht mehr begleiten können. Drei Jahre zuvor, im August 1942, war sie in ihrem Exil im niederländischen Karmelitinnen-Kloster Echt verhaftet worden. Anlass war eine groß angelegte Verhaftungswelle, die im Zusammenhang mit einem Hirtenbrief der katholischen Bischöfe der Niederlande stand, in dem diese gegen jede Diskriminierung und Verfolgung der Juden eingetreten waren. Die niederländischen NS-Machthaber um Reichskommissar Seyß-Inquart hatten darauf mit einer Vergeltungsaktion reagiert und hunderte Katholiken jüdischer Herkunft verhaften und nach Auschwitz deportieren lassen. Unter ihnen war auch Edith Stein, die noch am Tag ihrer Ankunft im Vernichtungslager hingerichtet wurde.

An den Prozessen der Neuerrichtung Deutschlands als freiheitlich-demokratisches Staatswesen, das die Würde des Menschen zum ersten Prinzip seines Grundgesetzes erhebt, konnte Edith Stein also nicht mehr teilhaben. Genau darauf aber hatten Zeitgenossen gehofft. Sie waren überzeugt, dass Edith Stein, in deren Lebenszeugnis und Schrifttum sich ein tief-geistliches Christsein mit einem wachen und kritischen staatsbürgerlichen Selbstverständnis verband, dem neuen Staat dienlich sein könnte. Der US-amerikanische Theologe John James Collins schrieb inmitten des Krieges in der theologisch-philosophischen Zeitschrift der New Yorker Fordham University über Edith Stein: „Wir Amerikaner dürfen nicht zulassen, dass ihr Vorbild und das von vielen anderen deutschen katholischen Intellektuellen außen vor bleibt, wenn die Friedensverhandlungen beginnen. Mit diesen Leuten verbindet uns eine gemeinsame Basis, die die Grundlage für den Wiederaufbau und die Errichtung einer internationalen Ordnung bildet.“[i] Collins konnte nicht wissen, dass Edith Stein nicht mehr lebte, als er diese Zeilen verfasste. Seine Einschätzung jedoch ist völlig richtig, dass man im Werk Edith Steins eine „tiefe und intelligente Liebe zu ihrem Heimatland“ entdecken kann und sie immer wieder auf die „charakteristisch deutsche Frage“ einer tragfähigen und gerechten Gemeinschaft zu sprechen kommt. Dabei leitet sie den Begriff der Gemeinschaft aus ihrem Verständnis des Menschen als Person ab, bei dem die Freiheit des Einzelnen und die Perspektive des Glaubens eine wichtige Rolle spielen.[ii]

Was verbindet Edith Stein mit dem heutigen Land Rheinland-Pfalz? Zum einen die Orte und Landschaften, in denen sie wichtige Jahre ihres Lebens zugebracht hat, und zum anderen die Menschen, die bis heute ihr Erbe bewahren und es als Quelle der Inspiration für ihr eigenes Tun erfahren. Sie bringen sich im Geist der Ideen und Motive Edith Steins in die heutige Kirche und Gesellschaft ein. Die unablässig wachsende Zahl an Publikationen über Edith Stein, aber auch an Institutionen und Einrichtungen, die nach ihr benannt werden, lässt darauf schließen, dass das Interesse in den vergangenen Jahrzehnten nicht nachgelassen hat, sondern eher noch wächst.

Es lohnt sich, jene Lebensstationen Edith Steins näher in den Blick zu nehmen, die sich mit dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz verbinden. Hier sind vor allem Bad Bergzabern und Speyer zu nennen, aber auch Landau, Maikammer, Schifferstadt und die Benediktinerabtei Maria Laach. Anfang der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts war Edith Stein mehrfach für längere Zeit in Bergzabern im Haus der Eheleute Hedwig Conrad-Martius und Theodor Conrad zu Gast. Auch andere Philosophen aus dem Kreis der Göttinger Phänomenologie gingen dort ein und aus, etwa Alfred von Sybel, Jean Hering, Alexandre Koyré oder Hans Lipps. Man half bei der Obsternte, genoss die Natur und das Miteinander und vertiefte sich in philosophische Gespräche. Edith Stein verfasste in Bergzabern zwei ihrer größeren Schriften, nämlich Eine Untersuchung über den Staat und Freiheit und Gnade. In letzterem Werk schrieb sie erstmals ausführlich über Fragen der Religion und des Glaubens. Im Sommer 1921 las sie in Bergzabern die Autobiographie Teresas von Ávila. Diese Lektüre gab den letzten Anstoß dafür, dass sie sich am 1. Januar 1922 in der Bergzabener Pfarrkirche St. Martin taufen ließ und einen Monat später von Bischof Ludwig Sebastian in dessen Privatkapelle in Speyer gefirmt wurde.

Im darauf folgenden Jahr verlegte Edith Stein ihren Wohnsitz vollständig in die Pfalz und trat auf Vermittlung des späteren Speyerer Generalvikars Joseph Schwind in den Schuldienst des dortigen Dominikanerinnenklosters St. Magdalena ein. Sie unterrichtete am Lehrerinnenseminar und mit einigen Stunden auch am Mädchenlyzeum die Fächer Deutsch und Geschichte. Dabei waren ihr die Allgemein-, aber auch die politische Bildung der jungen Frauen wichtig. So besuchte sie mit den Seminaristinnen gegen verschiedene Widerstände Lessings Nathan der Weise im Theater und setzte sich für die katholische Frauenbewegung ein. Edith Stein war überzeugt, dass es ein Gebot der Katholizität ist, der Freiheit des Einzelnen und der Weite des Denkens Raum zu geben.[1] In diesen Jahren tat sie sich als Übersetzerin großer theologischer Werke hervor, etwa von John Henry Newmans The Idea of a University oder Thomas von Aquins Quaestiones disputatae de veritate. Und: Edith Stein war zunehmend als Vortragsrednerin gefragt. Sie unternahm Vortragsreisen durch verschiedene Regionen Deutschlands, sprach aber auch in Wien, Zürich oder Paris zu Themen der Philosophie und des Glaubens, der Pädagogik und der Rolle der Frau. Dabei führte sie ein freies Wort und löste mehrfach Kontroversen aus – sei es, weil sie für die Berufstätigkeit der Frau plädierte (bei den Salzburger Hochschulwochen 1930) oder weil man ihren Zugang zur Frauenfrage als für zu philosophisch und thomistisch befand (bei einem Referat in Bendorf vor der zentralen Bildungskommission des Katholischen Deutschen Frauenbundes, ebenfalls 1930).

An eine letzte Szene, die sich auf dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz abspielte, sei hier noch erinnert. Am 7. August 1942 trug sich gegen 13 Uhr auf dem Bahnhof von Schifferstadt Dramatisches zu. Der vom niederländischen Durchgangslager Westerbork aus kommende Zug, der Edith Stein und ihre vielen Leidensgenossen nach Auschwitz bringen sollte, wurde über Umwege durch die Pfalz geleitet und kam für kurze Zeit an Gleis 3 des Schifferstädter Bahnhofs zu stehen. In diesen Minuten konnte Edith Stein mit mehreren Personen Kontakt aufnehmen, die sich in Rufweite aufhielten, etwa dem Bahnhofsvorsteher Valentin Fouquet, den sie bat, Grüße an die Familie seines Schulfreundes, ihres langjährigen geistlichen Begleiters Prälat Schwind auszurichten. Die hastig auf einen Zettel gekritzelte Nachricht, sie sei unterwegs ad orientem, ist ein Zeugnis größter Tragik und zugleich ihrer Hoffnung auf eine Gerechtigkeit, die größer ist als alles, was der Mensch auf Erden erwarten darf. Inzwischen findet in Schifferstadt jedes Jahr zu der Zeit, als der Zug im Bahnhof hielt, eine Gedenkveranstaltung statt, um an Edith Stein und ihre Gefährtinnen und Gefährten zu erinnern.

Es ist Papst Johannes Paul II. zuzuschreiben, dass Edith Stein Jahrzehnte nach ihrem Tod die höchsten Ehren zuteil wurden, die die katholische Kirche zu vergeben hat. Am 1. Mai 1987 sprach er sie im Stadion Köln-Müngersdorf selig, am 11. Oktober 1998 in Rom heilig. Ein Jahr später erhob er sie mit Birgitta von Schweden und Katharina von Siena zur Mitpatronin Europas. Wenige Tage nach der Seligsprechung in Köln hatte Johannes Paul II. auch Speyer besucht. Dabei kam er in seiner Predigt auf Edith Stein zu sprechen und rief der Menge auf dem Domplatz zu: „Seid treue Hüter ihrer Botschaft und ihres Lebenszeugnisses!“[2]

Die Erhebung zu Ehren der Altäre markiert einen Meilenstein in der Rezeption Edith Steins, nicht zuletzt hinsichtlich der Erforschung ihres Schrifttums. Am 30. April 1994 wurde zudem im Speyerer Kloster St. Magdalena die Edith-Stein-Gesellschaft Deutschland gegründet. Ziel der Gesellschaft ist es, das philosophische, pädagogische und religiöse Erbe Edith Steins, Tochter des jüdischen Volkes, Philosophin und Karmelitin, zu erschließen und zu pflegen. Daher widmet sich die ESGD „der Völkerverständigung und der Verwirklichung eines geeinten Europa, in dem die Menschenrechte unabhängig von bestehenden Grenzen und nationalen, religiösen, politischen oder wirtschaftlichen Unterschieden […] geachtet werden. Die ESGD bemüht sich um eine Vertiefung des christlich-jüdischen und des deutsch-polnischen Dialogs sowie um das Gespräch mit der säkularen Welt.“[3] Mehr als hundert Personen traten der Gesellschaft am Gründungstag bei. Anwesend bei der Gründungsversammlung war auch ein Großneffe Edith Steins sowie ein Augenzeuge ihrer Verhaftung in Echt. Gründungspräsidentin war Ursula Hansen, die zugleich Präsidentin des Katholischen Deutschen Frauenbundes und vormalige Sozialministerin des Landes Rheinland-Pfalz war. In ihrer Nachfolge wurden Monika Pankoke-Schenk (1997 bis 2009), Katharina Seifert (2009-2021) und zuletzt Beate Beckmann-Zöller (seit 2021) zu Präsidentinnen gewählt. Die Gesellschaft bietet ihren derzeit knapp 400 Mitgliedern eine Plattform, die sich nicht nur dem retrospektiv-historischen Blick, sondern zuallererst dem Auftrag verpflichtet weiß, im Geiste Edith Steins und ihres Glaubens die Gesellschaft von heute mitzugestalten. Aber auch unabhängig von der ESGD ist das Gedenken an Edith Stein in Rheinland-Pfalz präsent. Vielerorts wurden Schulen, Pfarrgemeinden, Caritas-Zentren, Straßen oder Plätze nach ihr benannt.[4]

Der polnische Philosoph Roman Ingarden, der mit Edith Stein eng befreundet war, hat über sie geschrieben: „Die Frage nach der […] Verständigung zwischen den Menschen hat sie am meisten bewegt, also die Frage nach der Möglichkeit der Schaffung einer menschlichen Gemeinschaft, welche nicht nur theoretisch, sondern auch für ihr Leben, in gewisser Weise für sie selbst sehr nötig war.“[5] Das Leben Edith Steins ist gewaltsam zu Ende gegangen. Ihr Suchen und ihr Beitrag zur Frage, wie die menschliche Gemeinschaft aus dem Glauben heraus gut gestaltet werden kann, sind bis heute lebendig.

Weiterführende Literatur

  • Dennebaum, Tonke, Freiheit, Glaube, Gemeinschaft. Theologische Leitlinien der Christlichen Philosophie Edith Steins (Freiburg 2018).
  • Feldes, Joachim, Das Phänomenologenheim. Der Bergzaberner Kreis im Kontext der frühen phänomenologischen Bewegung(Nordhausen 2015).
  • Herrmann, Maria Adele, Edith Stein. Ihre Jahre in Speyer (Illertissen 2012).

Einzufügende Fotos

   

Edith Stein als Studentin, um 1913.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Edith Stein-Archivs, Köln.


Pontifikalamt im Hohen Dom zu Speyer anlässlich der Gründung der Edith-Stein-Gesellschaft Deutschland, 1994. Im Hintergrund rechts: Bischof Anton Schlembach, Speyer.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Edith-Stein-Gesellschaft Deutschland e.V.


Gründungsversammlung der Edith-Stein-Gesellschaft Deutschland in Speyer, 1994. Vordere Reihe von links: Werner Schineller (Oberbürgermeister von Speyer), Ursula Hansen (Gründungspräsidentin der ESGD), Ernst Gutting (Weihbischof in Speyer), Hieronymus Nitz OSB (Erzabt von Beuron), Prof. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Dresden).
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Edith-Stein-Gesellschaft Deutschland e.V.

 Link zum Textauszug

 [1] Vgl. z. B. Edith Stein, Brief an Callista Kopf v. 8. 8. 1931, in: ESGA 2, Br. 169, 188.

[2] Papst Johannes Paul II., Homilie bei der Eucharistiefeier zum Thema „Europa“ auf dem Domplatz in Speyer am 4. Mai 1987, in: Predigten und Ansprachen von Papst Johannes Paul II. bei seinem zweiten Pastoralbesuch in Deutschland sowie Begrüßungsworte und Reden, die an den Heiligen Vater gerichtet wurden. Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 77 (Bonn 1987) 134.

[3] Statuten der Edith-Stein-Gesellschaft Deutschland e.V., Präambel, verfügbar unter www.edith-stein.eu/statuten.

[4] So etwa das Edith-Stein-Gymnasium Speyer, die Edith-Stein-Pfarreien in Bad Bergzabern, Ludwigshafen und Schifferstadt, das Caritas-Zentrum Edith Stein in Mainz, die Edith-Stein-Fachklinik Bad Bergzabern, der Edith-Stein-Platz in Speyer oder die Edith-Stein-Straßen in Andernach, Bad Neuenahr-Ahrweiler und Trier.

[5] Roman Ingarden, Über die philosophischen Forschungen Edith Steins, in: Waltraud Herbstrith (Hg.), Edith Stein – eine große Glaubenszeugin. Leben. Neue Dokumente. Philosophie (Annweiler 1986) 202-229, hier 220.

[i] John James Collins, The Fate of Edith Stein, in: Thought. Fordham University Quarterly, Bd. 18 (1943) 384. Übersetzung T.D.

[ii] Vgl. ebd.

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